Editorial aus Schiff&Hafen 1-2/2022: Ausnahmezustand und neue Perspektiven

Dr. Silke Sadowski, Chefredakteurin

Der anlässlich des Jahreswechsels auch für Schiff&Hafen traditionelle Rück- und Ausblick auf die Situation und Entwicklung der maritimen Wirtschaft zeigt eindrucksvoll, dass sich die Branche in einer Ausnahmesituation befindet.

Zuallererst sind es die Auswirkungen der Coronapandemie, die nahezu jedes maritime Marktsegment zu spüren bekommt. Das prägnanteste Beispiel ist die Kreuzfahrtbranche, deren Geschäft nach einem radikalen Absturz im Frühjahr 2020 auch in 2021 nicht einmal ansatzweise mit der erforderlichen Wirtschaftlichkeit betrieben werden konnte.

Aufgrund der Globalität der Branche hat unmittelbar auch die Frachtschifffahrt mit unterschiedlichsten Verwerfungen zu kämpfen: von der erschwerten Organisation des Crew-Wechsels bis hin zu extremen Angebots- und Nachfrageschwankungen müssen die Reedereien völlig unkalkulierbaren und zum Teil neuartigen Anforderungen gerecht werden. Da hilft es zumindest zum Teil, dass sich Fracht- und Charterraten im Laufe des zurückliegenden Jahres innerhalb kürzester Zeit vom Allzeit-Tief zu einem außergewöhnlichen Hoch entwickelt haben – wenn auch nicht für alle Frachtmärkte gleichermaßen. Dennoch sorgt die (partielle) wirtschaftliche Erholung mit Blick auf die anstehenden Investitionen für das Erreichen einer klimaneutralen Schifffahrt höchstens für ein kurzes Durchatmen.

Die deutschen Seehäfen als weiteres zentrales Glied in der (Transport)- Kette haben in ganz ähnlicher Weise mit den beschriebenen Marktturbulenzen zu kämpfen und müssen sich auf die starken Schwankungen bei Umschlagmengen und auch Passagieren einstellen. Gleichzeitig investieren die Hafenbetriebe in zukunftsfähige Technologien und Logistik und entwickeln ihre zentrale Rolle in Bezug auf die Energiewende.

Die Schiffbaustandorte sind je nach spezifischer Ausrichtung sehr unterschiedlich von der Coronapandemie betroffen. Mit dem Einbruch im Kreuzfahrtsegment ist gerade eine tragende (Wachstums-)Säule der deutschen Schiffbauindustrie ins Wanken geraten – mit der Insolvenz der MVWerften als eine schwerwiegende Folge. Andere im Spezialschiffbau aktive Unternehmen sind weniger von diesen coronabedingten Entwicklungen beeinflusst und können sich erfreulicherweise nach wie vor im globalen Markt behaupten. Dabei helfen auch die zur Jahresmitte 2021 vom Bund bewilligten Investitionen für maritime Rüstungsprojekte in Milliardenhöhe.

An dem aktuellen globalen Schiffbauboom für z.B. Containerschiffe und LNG-Tanker können die deutschen Werften allerdings nicht partizipieren, da diese überwiegend in Asien platziert werden.

Erfreulicherweise kann die deutsche Schiffbau-Zulieferindustrie sehr umfassend von den Neubauaktivitäten profitieren. Nach der langanhaltenden Auftragsflaute der vergangenen Jahre, ein dringend benötigter Schub. Auch vor dem Hintergrund der angestrebten Klimaneutralität der Seeschifffahrt ergeben sich für die deutschen Zulieferer, die auch auf diesem Gebiet weltweit zu den technologisch führenden Unternehmen gehören, vielfältige Potenziale. Die mit Blick auf die Klimaziele erforderlichen Umrüstungen der Bestandsflotte könnten darüber hinaus ebenso auch den deutschen Werften interessante Projekte und Aufträge bescheren.

Die Offshore- und Meerestechnik ist wohl das maritime Segment, das am wenigsten von den coronabedingten Verwerfungen beeinträchtigt wird und deren Bedeutung vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeitsziele zudem stetig wächst: Die Offshore-Windindustrie ist ein wesentliches Fundament der Energiewende, auch um die zur Erzeugung von grünem Wasserstoff benötigten, gigantischen Mengen an grünem Strom zu gewinnen. Die Meerestechnik stellt dringend benötigte Technologien bereit, die eine umwelt- und klimagerechte Nutzung der Meere ermöglichen und damit maßgeblich zur Versorgungssicherheit mit Nahrung, Energie und Rohstoffen beitragen.

Die fortschreitende Digitalisierung bietet wertvolle Impulse zur Bewältigung der anstehenden Aufgabenstellungen für jedes maritime Branchensegment, gleichzeitig ist die Einführung und Umsetzung einer digitalen Strategie für die Unternehmen wiederum mit Umstrukturierungen sowie nennenswerten Investitionen verbunden.

Fakt ist, dass es für die Bewältigung der anstehenden vielfältigen Herausforderungen – sei es durch die anhaltende Coronakrise, die maritime Energiewende bzw. die angestrebte Klimaneutralität oder die digitale Transformation – eines branchenübergreifenden Schulterschlusses und geeigneter politischer Flankierung bedarf.

Mit dem Koalitionsvertrag der neu gewählten Bundesregierung, in dem sich die wesentlichen Handlungsempfehlungen der maritimen Verbände wiederfinden, sind die Weichen gestellt. Nun gilt es, aus den Absichtserklärungen konkrete Maßnahmen abzuleiten. Die Ernennung von Claudia Müller (MdB) zur Koordinatorin der Bundesregierung für die maritime Wirtschaft und Tourismus ist ein erster wichtiger Schritt.

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