Vor 100 Jahren: Die Geburtsstunde der "Titanic"
Es war bei weitem nicht die schwerste Schiffskatastrophe, Dutzende Untergänge und Brände kosteten mehr Menschenleben. Doch über kein anderes Unglück wurden mehr als 3000 Bücher geschrieben, Dutzende Dramen und Musicals aufgeführt und eine zweistellige Zahl Filme gedreht. Die «Titanic» ist nicht nur das weltweit bekannteste Schiff, ihr Untergang gilt auch als Symbol für übertriebenen Fortschrittsglauben und menschliche Hybris. Vor 100 Jahren (1. Juli 1907) schlug die Geburtsstunde der «RMS Titanic». Die Idee entstand bei einem Abendessen zwischen Bruce Ismay, Chef der White Star Line, und Lord William Pirrie, Direktor der Schiffbauwerft Harland and Wolff in Belfast. Die beiden technik- und profitbegeisterten Männer beschlossen eine kleine Revolution auf dem großen Atlantik. Seit Jahrzehnten brachten Schiffe Millionen Auswanderer nach Amerika, doch jeder der Ozeanriesen hatte auch eine prestigeträchtige Erste Klasse. Besonderes Renommee versprach das Blaue Band, eine imaginäre Trophäe für die schnellste Atlantiküberquerung. Doch das interessierte Ismay und Pirrie nicht. Ihre Schiffe sollten für etwas anderes stehen: Luxus.
Am 1. Juli 1907 erteilte Ismay den Auftrag für den Bau von zwei Riesenschiffen, ein drittes sollte folgen. Pirrie baute seine Werft aus, statt knapp 6000 waren bald mehr als 11 000 Männer mit dem Bau der Riesen beschäftigt. «Lusitania» und «Mauretania» hießen damals die mit je 30 000 Bruttoregistertonnen größten Schiffe. Die etwa 270 Meter lange «Titanic» sollte hingegen 46 000 Tonnen groß sein, die Schwesterschiffe «Olympic» und «Gigantic» kaum kleiner. Der modernste Stahl war für die Schiffe verbaut worden. Allein ein Glied der Ankerkette wog 55 Kilogramm. Die 51 000-PS-Maschine trieb drei 38 Tonnen schwere Schrauben an und brachte das Schiff so auf 21 Knoten (39 km/h) - viel zu wenig für das Blaue Band. Die Heizer mussten täglich 630 Tonnen Kohle verfeuern, um die drei knapp 25 Meter hohen Schornsteine rauchen zu lassen - der vierte war nur Attrappe, die Konkurrenz fuhr schließlich auch mit vieren. Die Suiten entfalteten eine Pracht, die die reichen Öl- und Industriebarone noch nicht gesehen hatten. Squashhalle, Schwimmbad, Rauchsalons und Cafés sollten die Atlantiküberquerung zum standesgemäßen Vergnügen des Geldadels machen. Die zweite Klasse war noch so luxuriös wie auf anderen Schiffen die erste. Selbst die Auswanderer im Zwischendeck hausten nicht mehr in Schlafsälen, sondern in eigenen, wenn auch spartanischen Kabinen. 36 Dollar zahlten sie für die Überfahrt, ein paar Decks höher waren es 150. Eine Suite kostete allerdings mehr als 4000 Dollar.
Mit 1300 Passagieren war die Jungfernfahrt nur gut zur Hälfte ausgebucht. Wer mitfuhr, fühlte sich elitär - und sicher. Schließlich hatte das Schiff einen zweifachen Boden und Schotten, die ein leckgeschlagenes Segment abtrennen konnten. Das Schiff war «das in Stahl genietete Selbstbewusstsein, den Naturgewalten gewachsen zu sein», schreibt der Marinehistoriker Thies Völker: «Alles schien mit Goldmark, Pfund Sterling oder Dollar manipulierbar zu sein, Gott und die Natur inklusive.» Der Rest ist Geschichte: Auf seiner Jungfernfahrt rammte das Schiff am 14. April 1912 einen Eisberg, durch die verhältnismäßig kleinen Lecks schossen schon in der ersten Stunde 25 000 Tonnen eiskaltes Wasser in das Schiff - zu viel für die Schotten. Die Zahl der Rettungsboote entsprach zwar den Vorschriften, zu wenige waren es dennoch. Von den 2200 Menschen an Bord der «Titanic» starben 1500. Unter den Toten auch ein Teil der Geldprominenz. John Jacob Astor IV, von einem Schornstein erschlagen, wurde identifiziert, weil im Smoking der Leiche die unglaubliche Summe von 4000 Dollar in bar gefunden wurde.
Der erste Film über die Tragödie wurde schon ein Jahr später gedreht. In der Hauptrolle: Dorothy Gibson, Überlebende der Katastrophe. Doch eigentlich hatte man alles schon 1898 nachlesen können. Da veröffentlichte ein Amerikaner namens Morgan Robertson die Geschichte eines Riesenschiffes, das als unsinkbar gilt, aber in einer Aprilnacht auf dem Weg nach New York einen Eisberg rammt und, weil zu wenige Rettungsboote an Bord sind, die meisten der 3000 Menschen an Bord mit in die eisige Tiefe reißt. Der Name des Romanschiffes: «Titan».